2024 jährt sich die Unterzeichnung der Charta von Venedig zum sechzigsten Mal. Das Dokument, das im Mai 1964 vom Internationalen Kongress der Architekten und Denkmalpfleger in der italienischen Lagunenstadt beschlossen wurde, dient auch der Stiftung Kirchenburgen als Leitschnur für ihre denkmalpflegerischen Tätigkeiten.
Nach dem Ende der verheerenden Katastrophe des Zweiten Weltkrieges befand sich die Denkmalpflege Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts vor schwierigen Herausforderungen und großen Chancen gleichermaßen. Nur zaghaft hatte sich der denkmalpflegerische Gedanke aus Großbritannien auf den europäischen Kontinent gewagt, als der Krieg europäisches Kulturgut in großem Stil vernichtete. Nun, in der Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre sollte mit der Charta von Venedig ein großer Wurf der Denkmalpflege ganz neue Maßstäbe setzen. Als inhaltlicher Anknüpfungspunkt diente den Unterzeichnern die Charta von Athen aus dem Jahr 1931, die sich bereits in der Zwischenkriegszeit mit ähnlichen Fragen befasst hatte.
Eigentlich ist es ein Kuriosum, dass die Denkmalpflege-Charta, in der man sich auf sehr strenge Maßstäbe festlegt, ausgerechnet in Venedig unterzeichnet wurde. Ein halbes Jahrhundert davor wurde in der Hafenstadt der Campanile di San Marco feierlich wiedereröffnet: Eisenbeton und das Know-How moderner Ingenieurskunst, verborgen in einer bezaubernden Hülle, die dem alten, im Jahr 1902 eingestürzten Campanile zum Verwechseln ähnlich sieht. In jener Stadt also, in der diese architektonische Geschichtsklitterung begangen wurde, wurde 1964 zu Papier gebracht, dass “bauliche Eingriffe nicht die strukturelle Gestalt ändern dürfen. Sollten Rekonstruktionen erforderlich sein, müssen bauliche Beiträge aus allen relevanten Epochen Berücksichtigung finden.” – Che peccato!
Spannungsfeld der Interessen
Es wäre natürlich respektlos, allein die damaligen Ratsherren von Venedig an den kulturhistorischen Pranger zu stellen. Denkmalpflege bewegt sich seit jeher in einem aufgeladenen Spannungsfeld unterschiedlichster Interessen: Benutzerfreundlichkeit, das vorhandene Budget, die Bürokratie, ökonomische Partikularinteressen und nicht zuletzt ungeschriebene Gesetze (Was wäre denn der Markusplatz ohne Campanile?) stehen oft in scheinbarem oder auch tatsächlichem Widerspruch zu den hehren Zielen der Denkmalpflege. Auch in der siebenbürgischen Kirchenburgenlandschaft, wo seit Jahrhunderten Kirchen, Türme, Tore und Mauern nicht nur errichtet wurden, sondern auch einstürzen, können wir dieses Spannungsfeld regelmäßig erleben.
Eine der direkten Folgen der Unterzeichnung der Charta von Venedig war 1965 die Gründung des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS). Diese Nichtregierungsorganisation berät die UNESCO im Hinblick auf das Weltkulturerbe. Der Institution ICOMOS und vor allem dem dort an führender Stelle wirkenden, aus Schässburg stammenden Denkmalpfleger und Kunsthistoriker Dr. Dr. h.c. Christoph Machat ist es zu verdanken, dass die siebenbürgischen Kirchenburgen von Birthälm, Dersch (Székelyderzs/Dârjiu), Deutsch-Weißkirch, Tartlau, Keisd und Wurmloch, die Gräfenburg von Kelling und die Altstadt von Schässburg ab 1993 in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurden.
Venedig könnte uns also in mehrfacher Hinsicht eine Lehre sein: Die hohen Ansprüche der Charta führen zwar nicht immer zu deren kompromissloser Umsetzung. Der Streit über Fragen der Denkmalpflege kann jedoch durch das Venediger Vertragswerk erheblich konstruktiver geführt werden, als dies ohne diesen Text der Fall wäre. Gleichzeitig lernen wir, dass die Trauer über Vergangenes ebenso menschlich ist, wie der Wunsch, Altes zu kopieren – selbst, wenn dies nicht der “reinen Lehre” entspricht. Was dies für Rothbach, Radeln, Alzen und andere von dauerhaften Schäden betroffene Kirchenburgen in Siebenbürgen bedeutet, wird die Zukunft zeigen.
Kommentar und Fotos: Stefan Bichler